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Die soziale Logik des Likes

Eine Twitter-Ethnografie

Erschienen am 09.05.2018, Auflage: 1/2018
35,00 €
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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783593509105
Sprache: Deutsch
Umfang: 388 S.
Format (T/L/B): 2.4 x 21.5 x 14.3 cm
Einband: kartoniertes Buch

Beschreibung

Follower, Likes, Retweets: Unser Alltag ist längst durchdrungen von Plattform-Einheiten. Aktuelle Gesellschafts- und Sozialtheorien stoßen deshalb fast unweigerlich auf die Frage, was es mit ihnen auf sich hat. Die Antwort ist allerdings nicht einfach, allein schon, weil die Bedeutungen dieser Einheiten widersprüchlich sind: Zum einen bringen sie eine Logik der Berechnung mit sich. Zum anderen schaffen sie etwas, was für jede Gesellschaft der Menschheitsgeschichte zentral ist: Anerkennung. Ausgewählt für die Shortlist des Opus Primum - Förderpreis der VolkswagenStiftung für die beste Nachwuchspublikation des Jahres 2018

Autorenportrait

Johannes Paßmann, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Digitale Medien und Methoden an der Universität Siegen.

Leseprobe

Einleitung Erfolgsgeschichten der Plattformen Twitter ist nicht verschwunden. Facebook, Instagram und andere Social-Media-Plattformen ebenso wenig. Fragt man, wie sie so groß werden und bleiben konnten, wie sie so mehr oder weniger "zeitlos" wurden, könnte man einer ganzen Reihe von Spuren nachgehen. Man könnte zu erforschen versuchen, welchen Anteil die technische Entwicklung hatte, die unter anderem dazu geführt hat, dass Endgeräte so mobil wurden, dass die Computer als Smartphones die Schreibtische verlassen und mehr und mehr in alle möglichen Alltagspraktiken eingebunden werden konnten. Dies ist implikationsreicher, als man möglicherweise erwarten würde: Die Mobilität Twitters zum Beispiel funktionierte zunächst per SMS; die Durchsetzung der Smartphones kam nach der Etablierung Twitters als mobile Anwendung. Häufig wird Twitter als Anlass für den Erwerb eines Smartphones in den frühen 2010er Jahren genannt, oft folgte man auch der Logik, dass man auch Twitter nutzen solle, wenn man nun schon ein Smartphone habe. Wie so häufig in der Technikgeschichte geht nicht eine technische Innovation den Praktiken der Nutzung voraus, sondern beide - und wahrscheinlich noch eine ganze Reihe anderer Akteure - vermengen sich zu einem ko-konstitutiven Prozess, in dem technische und alltagspraktische Vorläufer sich und ihre Nachfolger in einem "dance of agency" wechselseitig hervorbringen, sodass am Ende kaum noch von einer Innovation die Rede sein kann: Die Smartphones haben an ältere Nutzungspraktiken, Standards und Technologien angeknüpft und dabei gleichzeitig neue hervorgebracht. Diese Kette kann man fast beliebig in die Vergangenheit verlängern, so lässt sich nicht nur die SMS auf Standards der Automobiltelefonie zurückführen, sondern sie basierte selbst wiederum sehr konkret auf Praktiken wie dem Postkarten-Schreiben. Man könnte auch die These aufstellen, dass die Risiko-Kapitalgeber und Beraterinnen dieser Firmen im Studium so viel über Netzwerktheorie und die "Strength of Weak Ties" gelernt haben, dass sie fest daran glaubten, dass es einmal ein soziales Netzwerk geben müsse, das die Welt erobert und in dem jeder mit jedem über höchstens "Six Degrees of Separation" verknüpft ist. Das theoretische Modell des sozialen Netzwerks hatte das Denken amerikanischer und europäischer Eliten in den 2000er Jahren bereits so durchdrungen, dass sich nicht mehr so sehr die Frage stellte, ob ein solches Business-Model ohne ersichtliche Gewinnperspektive langfristig lohnend ist, sondern vielmehr, welches Startup dasjenige sein wird, das sich damit durchsetzt. So erzeugte die Wissenschaft genug Vertrauen, Optimismus und Kredit, um unüblich lange finanzielle Durststrecken durchzustehen. Auch deshalb wurden so viele verschiedene solcher Unternehmungen gefördert, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis manche sich durchsetzen. Die ethnologischen, soziologischen und psychologischen Netzwerk-Theorien hätten dann nicht bloß Wirklichkeit beschrieben, sondern einen maßgeblichen Anteil an der Erzeugung einer neuen Wirklichkeit gehabt. Gleichzeitig haben auch diese Theorien eine Verbreitungs- und Plausibilitätsgeschichte, durch die sich die Ursachen mehr und mehr auflösen, je näher man ihnen kommt. So benennt Linton C. Freeman Anfänge der soziologischen Netzwerktheorie bei drei verschiedenen Forschergruppen in den 1930er Jahren, setzt deren Erfolgsgeschichte aber in Zusammenhang mit technischen Entwicklungen der 1970er und insbesondere 1990er Jahre, als das Internet weltweite Popularisierung erfuhr. Vor allem in diesem letzten Schub der Netzwerktheorie sind es Physiker, die sich zur Empörung vieler Sozialwissenschaftlerinnen und Kulturwissenschaftler kaum oder gar nicht für diese theoretische Tradition interessieren, was selbst wiederum zu einer intensiveren Beschäftigung mit der Netzwerktheoriegeschichte führte. Sobald das Netzwerk allgegenwärtig ist, schwitzt es die Netzwerktheorien sozusagen aus, es reicht dann der soziologische Sachverstand eines Physikers, um sie einzusammeln - vielleicht deshalb, weil sie selbst so tief in die Technologien eingeschrieben sind? Ein anderer Ansatz für die Frage nach dem Erfolg der Social-Media-Plattformen wäre wohl auch eine sich seit Jahrzehnten entwickelnde Netzkultur, die so stabile Praktiken entwickelt und weiterentwickelt hatte, dass es online etwas zu sehen, zu tun und zu erfahren gab, was es dort und nur dort gab. So war das heute vielleicht eher wenig avantgardistisch anmutende Facebook etwa in den 2000er Jahren auch entscheidende Plattform der Anonymous- und Trollkultur. Doch auch hier vermengen sich vermeintliche Ursachen und Wirkungen: Aus vormals anonymen 4chan-Usern stabilisierten sich über Facebook Pseudonyme mit Prestige, es etablierten sich festere Communities, die sich zu kollektiven Aktionen koordinieren und eine eigene soziale Ordnung ausbilden konnten. Facebook wurde insofern einerseits für eine bestimmte, netzkulturhistorisch wichtige Gruppe (ihre Memes sind heute überall) zu einem sozialen Ort, der die Plattform inhaltlich profilierte. In dieser Weise könnte man sagen, sie nahm bestehende kulturelle Praktiken auf. Andererseits transformierte Faecebook diese Kultur selbst auch entscheidend, und so ist unser heutiges Interesse für diesen und nicht einen anderen Pfad der Entwicklung Ergebnis seiner eigenen Siegergeschichte. Etwas Ähnliches könnte man für Twitter in Deutschland konstatieren. Diese Plattform gab der deutschsprachigen Blogosphäre, die sich insbesondere auch um die re:publica-Konferenzen in Berlin organisiert hat, einen Ort, der diese Community, aber eben auch Twitter in Deutschland transformierte. Die einflussreichsten Twitteraccounts in Deutschland waren daher viele Jahre lang die von Markus Beckedahl (@netzpolitik), Mario Sixtus (@sixtus) oder Sascha Lobo (@saschalobo) - allesamt Personen, die vorher durch ihre Blogs bereits bekannt waren und dem mehr oder weniger direkten Umfeld der re:publica zugerechnet werden können. Auch hier gibt es also eine bestehende, zumindest im weiteren Sinne netzkulturelle Community, die sich die Plattform früh aneignet, ihr eine Funktion gibt und gleichzeitig von ihr und ihren Funktionen entscheidend geprägt wird. Man könnte auch die Rolle der Universitäten untersuchen: Bevor Twitter und Facebook sich etwa in Deutschland etablieren konnten, gab es StudiVZ, eine Plattform, die explizit auf Studierende ausgelegt war - jeder User musste eine Hochschule angeben, an der er studierte. StudiVZ funktionierte ziemlich genau so, wie das frühe Facebook in den USA und England; der markanteste Unterschied war noch, dass StudiVZ rot designte, was bei Facebook blau war (die StudiVZ-Programmierer sollen ihre Plattform intern nur "Fakebook" genannt haben, da die Parallelen auch im Code auffällig gewesen sein sollen). Erst im nächsten Schritt wechselte man dann aus diversen Gründen zu Facebook über: Es war unmittelbar offensichtlich, dass es sich bei Facebook um die Vorlage für StudiVZ handelte, Facebook war zudem internationaler, sodass man dort viel leichter mit den in Auslandssemester oder Work-and-Travel-Jahr geknüpften Kontakten in Verbindung bleiben konnte, und nicht zuletzt hatte StudiVZ aus heutiger Sicht geradezu lächerliche Datensicherheitsprobleme und PR-Pannen bei der Kommunikation ihrer AGB-Änderungen. Facebook wurde so auch moralisch aufgewertet. Wer sich dort registrierte, tat etwas Richtiges, allein schon, weil er auf der Seite des Opfers stand und sich kritisch in Sachen Datenschutz geben konnte. Insofern wird man reichlich Belege für die These finden, dass es für die deutschen Nutzerinnen und Nutzer nicht unwichtig war, dass es diese unfreiwillige Rollenaufteilung gab, zwischen deutschem, unsicherem Fake und dem amerikanischen Original - dem ja nicht zuletzt auch Wirkungen in arabischen und persischen Demokratiebestrebungen zugeschrieben wurden. Die Hochschul-Plattformen waren demnach entscheidende Vorläufer der heutigen Plattformen, und so ist es kaum zufäll...

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